Samstag, 10. Januar 2015

Jungs wie du



Wir fahren mit der Straßenbahn durch die halbe Stadt, du setzt dich nach jedem Umstieg neben mich, auch wenn du die Möglichkeit hättest, dir einen anderen Platz zu suchen. Wir schweigen. Ich schaue aus dem Fenster, die Sonne scheint. Nach einer Zeit frage ich dich, ob du weißt, wie es gleich abläuft. "Ja", sagst du. Die komplette Fahrt über bleiben wir still. Dann steigen wir aus, du fragst nach meinem Feuerzeug, wir stehen in der Sonne, du steckst dir eine Zigarette zwischen die Lippen, wir sind beide ein bisschen unschlüssig, ich hocke mich auf ein Geländer, du lehnst dich an einen Stromkasten. Deine Beine zappeln, und dafür, dass es immer wieder in einschlägigen Zeitungen heißt, Jungs wie du hätten keine Angst mehr vor der Polizei, wirkst du ziemlich nervös.
Als du fertig bist, nickst du mir zu. Wir gehen zum Eingang, du kennst den Weg.

Über dem Schreibtisch des Polizisten hängen an der Raufasertapete zwei Kinderzeichnungen. Zwei Bilder, DIN A4, Querformat. Auf jedem Papier findet sich ein großes dickes Buntstiftherz, darunter das Wort "Baba". Davon abgesehen ist der Raum kahl, keine persönlichen Gegenstände, dafür ein großer Wandschrank voller Beweismittel. Es ist eng in dem kleinen Büro, die Tür lässt sich nicht mehr öffnen, wenn vier Personen darin sitzen.

Der Polizist weist uns die Stühle zu, du in der Mitte, ich links von dir, der Dolmetscher rechts von dir. Uns gegenüber nimmt er selbst Platz. Die Vernehmung beginnt, die Wahrheit ist eine Geschichte, oder die Geschichte deine Wahrheit, zumindest betont der Polizist immer wieder, dass er dir nicht glauben würde, denn die Beweise sprechen gegen dich.
Mein Blick schweift immer wieder zu den Bildern an der Wand, während der Polizist das Verhör am Computer verschriftlicht. Ich frage mich, ob du deinem Vater auch einmal solch ein Bild gemalt hast, ob man dir überhaupt jemals Buntstifte gegeben hat, ob du überhaupt weißt, wer dein Vater ist.

Ich bin mir nicht sicher, ob das rhetorische Finesse ist oder nur plumpe Aggression, als der Polizist plötzlich laut wird und sagt "Mir reicht's", mit dem Finger auf dich zeigt und dir eine letzte Chance gibt, die Wahrheit zu sagen. Aber ich bin mir sicher, dass es einem Dolmetscher nicht gestattet ist, zu sagen, dass Jungs wie du den Ruf seines Volkes durch den Dreck ziehen. Also melde ich mich zum ersten Mal nach den vergangenen sechzig Minuten zu Wort.
"Sie sind doch Deutsche, sie wissen doch gar nicht, wie das ist", höre ich. Ich frage mich, was "das" sein soll und denke, dass zur Zeit einige Menschen, die deutsch wie ich sind, auf die Straße gehen und eine "Null-Toleranz-Politik" für Jungs wie dich fordern.

Nach 90 Minuten stehen wir wieder im Sonnenschein, ich drücke dir mein Feuerzeug in die Hand und sage "Geschenk". Dann rauchst du erstmal. Die sogenannte Wahrheit ist nun ein Textdokument mit deiner Unterschrift.
Wir fahren zurück, du sitzt wieder neben mir. Wir fahren immer noch schweigend, steigen um und aus. Nebeneinander gehen wir die letzten Meter, wir laufen auf gleicher Schritthöhe. Dann schließe ich die Tür auf, zu meiner Arbeit, zu deinem ersten gefühlten, ja, was denn eigentlich, vielleicht Zuhause seit langer Zeit. "Dankeschön", sagst du und schaust mich dabei an.

Ich habe dich mal gefragt, was du dir wünschst. Du hast gesagt, dass du gern deine Freundin heiraten möchtest. Vielleicht sind das die Träume, die man hat, wenn man ein Junge ist wie du.